Buchbesprechung: Grenzenlose Selbstbestimmung?

 

Mieth, Dietmar

Grenzenlose Selbstbestimmung? Der Wille und die Würde Sterbender.

Patmos, Düsseldorf 2008, 112 Seiten

 

 

Dietmar Mieth, ein renommierter Ethiker an der Universität Tübingen, leistet mit seinem Buch „Grenzlose Selbstbestimmung? Der Wille und die Würde Sterbender“ einen streitbaren Beitrag zur aktuellen Debatte über die rechtliche Regelung der Patientenverfügung. Im Zentrum des Buches steht die Selbstbestimmung, die Dietmar Mieth aus verschiedenen Perspektiven bespricht. Die Frage nach der Patientenverfügung setzt er in Bezug zu den Themen Sterbehilfe, Menschenwürde und biblisches Tötungsverbot.

 

Zu Beginn stellt Mieth die Frage, „ob man den aktuellen Patientenwillen durch ein Verbot der aktiven Sterbehilfe begrenzen und zugleich den vorausverfügten oder mutmaßlichen Willen unbegrenzt wirken lassen kann“. Dann betont er, dass Tötung durch den Arzt auf Verlangen (aktive Sterbehilfe) vom Behandlungsverzicht bzw. Behandlungsabbruch zu unterscheiden ist, wobei beide Probleme jedoch eng mit dem Begriff der Selbstbestimmung verbunden sind.

 

Als nächsten Punkt thematisiert Mieth den Konflikt zwischen der Beihilfe zur Selbsttötung und dem ärztlichen Ethos, sprich dem ärztlichen Auftrag der Lebensförderlichkeit. Die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung wird von manchen als Euthanasie angesehen, weil ihnen der Übergang zwischen beiden in vielen Fällen fließend zu sein scheint. Mieth spricht sich dagegen für die Abgrenzung der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung von der aktiven Sterbehilfe aus, obwohl ihm bewusst ist, dass diese Grenze oft hauchdünn ist.

 

Das erste Kapitel widmet der Autor dem Thema Tötung auf Verlangen und geht auf das Problem der Verantwortung und Selbstbestimmung ein. Er stellt die moderne Überzeugung in Frage, dass wir selbst oder andere über unseren Tod entscheiden können und betont, dass diese Macht der christlichen Tradition nach nur Gott zukommt. Im weiteren kritisiert er die Tötung auf Verlangen und zeigt Argumente dagegen auf. Zum einen stehe die Tötung auf Verlangen im Widerspruch zum Auftrag des Arztes. Darüber hinaus bestehe die Gefahr, dass eine Erlaubnis zur Euthanasie mit der Zeit zu einem Gebot wird. Mieth schreibt außerdem: „Das Angebot eines angenehmen Todes ist eine Fiktion“.

 

Der Autor weist auf die unterschiedliche Bedeutung des Wortes würdig in unserer Alltagssprache und Würde in der Moralphilosophie und im Verfassungsrecht hin. In dieser Unterscheidung wird deutlich, dass wir unter dem Begriff menschenwürdig sterben weniger ein angesehenes, prestigegemäßes, sondern ein selbstbestimmtes Sterben verstehen. Mieth schreibt: „Die ‚Menschenwürde‘ gilt als der Inbegriff eines zusammenfassenden ethischen Kriteriums schlechthin“. Am Beispiel dieser Definition wird klar, dass die Menschenwürde ein fundamentales Kriterium ist, das unser Handeln bestimmt und unser Leben würdig macht.

 

Im dritten Kapitel beschäftigt Mieth sich u. a. mit dem Problem der Unverfügbarkeit des Sterbens. Jede/r von uns wird irgendwann sterben. Das Sterben ist unverfügbar. Trotzdem versuchen wir ständig, gegen und über das Sterben zu verfügen. Mit dem Töten auf Verlangen sind wir nach Mieth sehr nahe daran, das Tabu der Unverfügbarkeit des Sterbens völlig einzureißen. Aus christlicher Sicht sollte man den Tod freiwillig und passiv annehmen, weil die freiwillige Annahme den Tod leichter macht. Der moderne Mensch will aber, so Mieth, dem Tode seine Verfügungsmacht beweisen. In diesem Kontext wird die Selbstbestimmung mit Menschenwürde und Euthanasie zusammengestellt. Mieth betrachtet diese Zusammenstellung kritisch. Man darf seiner Ansicht nach einerseits das Leben des Patienten gegen seinen Willen nicht verlängern, besonders wenn es die „Sterbensqualität dramatisch verschlechtern sollte“, andererseits darf man aber auch den Tod nicht legalisieren. Die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe ist von großer Bedeutung und muss erhalten bleiben. Darüber hinaus weist Mieth noch darauf hin, „dass es rechtliche und soziale Alternativen zur aktiven und direkten Sterbehilfe gibt“, insbesondere die Institutionalisierung der Palliativpflege.

 

Das Tötungsverbot, so Mieth, ist eine Urregel der Rechtsgemeinschaft. Diese hat die Aufgabe, das Leben des Menschen zu schützen, weil dieses Leben in der christlichen Tradition ein fundamentales Gut darstellt. Andererseits kann man sowohl in der Geschichte als auch heutzutage viele Argumente für die Rechtfertigung des Tötens unter bestimmten Umständen finden. Im Endeffekt, aus der heutigen christlichen Position gesehen, kann es aber keine Rechtfertigung des Tötens geben. Die zukünftige Einstellung zum Töten und die Gültigkeit des Tötungsverbots hängen, so Mieth, von uns selbst ab. Das biblische Tötungsverbot wird gebrochen, wenn wir die neuen Götter unser moralisches Bewusstsein verändern lassen. Mit neuen Göttern meint Mieth die moderne Lebenskultur. Sie wird von philosophischen Lehren wie z. B. dem Utilitarismus geprägt. Der Mensch ist ständig auf der Suche nach Glück und dieses Glück wird oft als Vermeiden des Leidens verstanden. Nun kommt es zur Situation, dass Vermeiden des Leidens zum Töten – zum Tod auf Verlangen oder Selbstmord – führt. Mieth kritisiert diese Tendenz und schreibt: „Der Zweck, die Aufhebung des eigenen Leidens, heiligt nicht das Mittel, einen anderen Menschen zum Opfer oder zum Täter einer Tötungshandlung zu machen, die sich gegen das eigene Leiden richtet“.

 

Nun sind wir bei dem letzten und im Zusammenhang mit der aktuellen Debatte wichtigstem Kapitel. Mieth stellt bereits zu Beginn des Buches die Frage, „ob Patientenverfügungen notwendige und wirksame Instrumente zur Stärkung der Selbstbestimmung sind“. Dann weist er auf bestimmte Probleme mit der Deutung des Begriffs Selbstbestimmung in Bezug auf die Patientenverfügung hin. Dieser Begriff wird in der Gesellschaft laut Mieth zu oft auf einer kontextlosen und abstrakten Ebene gesehen. Man vergisst, dass der Mensch nicht in einem Vakuum lebt. Wir sind von anderen Menschen abhängig. Unsere Entscheidungen werden von der Umgebung und der Situation beeinflusst. Dadurch, dass man diese Tatsachen nicht ausreichend wahrnimmt, wird von Selbstbestimmung empathisch gesprochen. Dies ist aber falsch, weil man oft unter demselben Begriff der Selbstbestimmung etwas anderes versteht. Unabhängigkeit und Unauswechselbarkeit sind nicht das Gleiche, ebenso müssen  aktuelle und antizipierte Selbstbestimmung  voneinander unterschieden werden.

Darüber hinaus geht Mieth auf die große Rolle der Fürsorge in der christlichen Tradition und auf den aus christlicher Sicht lösbaren Konflikt zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung ein. Die Fürsorge wird zu oft, so Mieth, mit Paternalismus assoziiert. Bei der Fürsorge geht es aber nicht um Entscheidung, sondern um Beziehung. In diesem Kontext ist die Ausdehnung der Palliativmedizin und der Hospizpflege von großer Bedeutung. Zum Abschluss seines Buches spricht Mieth sich deutlich für die rechtliche Regelung zur Patientenverfügen aus. Ein Argument dafür ist z. B. die Tatsache, dass „bekanntlich rechtliche Regelungen große Einflussfaktoren für persönliche ethische Handlungen sind“.

 

„Grenzlose Selbstbestimmung?“ ist ein wichtiges und zur rechten Zeit veröffentlichtes Buch, das ich sowohl Leser/innen, für die der Begriff Patientenverfügung ganz neu ist, als auch denen, die sich schon mit ihm auskennen, empfehlen kann. Der Autor betrachtet das Thema aus verschiedenen Perspektiven, wobei seine eigene von der christlichen Tradition geprägt ist. Der moderne Leser hat nun die Chance, diese fundamentale Perspektive neu zu entdecken und sich mit ihr auseinanderzusetzen. „Grenzenlose Selbstbestimmung?“ gibt sicherlich nicht auf jede Frage eine Antwort, ist aber auf jeden Fall bereichernd. Es vermittelt einen neuen Blick auf die Frage der Selbstbestimmung und regt zum Nachdenken an.

Berlin, August 2008

 

Bartlomiej Gasiulewicz

Student der Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder, derzeit Praktikant am IMEW